In Meiner Tasche Dorrith M. Sim An diesem Morgen mochte kaum jemand an Bord des Schiffes frühstücken. Es war das Jahr 1939. Es war im Juli. Wir waren auf einem Boot. Ein Boot voller Kinder auf der Flucht vor der Gefahr Vorher hatte im Hamburger Bahnhof ein Zug auf uns gewartet. Gewartet, um uns nach Holland zu bringen. Mutti und Vati sagten zu mir, dieses Schiff würde uns in ein neues Leben führen. Alle Eltern weinten. Wir weinten auch. Ein kleines Mädchen schluchzte besonders laut, sie hatte ihren Stoffhund fallengelassen. Er lag auf den Schienen. Ein Mann rettete den Hund. Er rief: „Fang!” und warf ihn ihr zu. Sie fing ihn auf, in dem Moment setzte sich der Zug in Bewegung. Das Mädchen hörte auf zu schluchzen – drückte den Hund fest an sich. „Auf Wiedersehen“ – sie winkte dem Mann zu. Nach einer langen Zeit hielt der Zug endlich an. Ein großer Junge sagte, wir wären nun in Holland. Wir setzten uns auf eine grüne Wiese und aßen Käsebrote. Für die holländischen Menschen, die sich um uns kümmerten, sangen wir Lieder. Eines der Lieder handelte von einer Meerjungfrau. Die Helfer gaben uns Milch und Schokolade. Aber schon bald ging unsere Reise weiter. Es war sehr unheimlich, auf dem Schiff einzuschlafen – ohne unsere Eltern. Nur Geschwister waren nicht alleine. Nachts verirrten sich die Kinder. Sie waren aus den Kabinen zu den Toiletten gegangen und fanden den Weg zurück nicht mehr. Dann war es soweit. Mit einem Namensschild um den Hals gingen wir von Bord. Der Laufsteg war aus Holz. Durch die Ritzen sah ich das Wasser und mir wurde schwindelig. Ich wollte nicht weitergehen, aber die anderen hinter mir schubsten mich vorwärts. Ich schloss die Augen und hielt mich fest am Geländer. Ich tastete mich vorwärts mit geschlossenenAugen. Endlich berührten meine Füße festen Boden,und da musste ich sehr, sehr weinen. Ein Zug wartete auf uns Jemand meinte, es sei ein englischer Zug, der uns nach London brächte. Eine große Menschenmenge empfing uns. Einige Kinder wurden von Freunden oder Verwandten ihrer Familie abgeholt. Andere schauten hilfesuchend um sich. Man sah Männer mit Fotoapparaten und Leute, die Fotos in der Hand hielten. Fotos von Kindern, die sie solange mit zu sich nehmen würden, bis diese Kinder wieder nach Hause zurückkehren könnten. Ein Mann und eine Frau blickten ganz intensiv auf das Foto in ihren Händen. Die Frau zupfte ihren Mann am Arm: „Sieh doch nur“, rief sie aus, „das ist unser Kind. Das Mädchen mit der roten Schleife und dem großen Stoffhund.“ Daran erkannten sie mich. Ein Mann in ihrer Begleitung sprach deutsch. Er sagte: „Willkommen schön Kind.“ Alles, was ich auf Englisch sagen konnte, war: „Ich habe ein Taschentuch in meiner Tasche – I have a handkerchief in my pocket.“ So begann ich, Englisch zu lernen. Und immer wenn ich ein neues Wort kennenlernte, prägte ich es mir mit diesem Satz ein: „Ich habe einen Hund in meiner Tasche. Ich habe ein Haus in meiner Tasche. Ich habe einen Lehrer in meiner Tasche.“ Der Mann und die Frau kamen aus Schottland. Alles war sehr fremd für mich. In Deutschland hatte ich einen Sitz auf dem Fahrrad von Vater. Aber in Edinburgh, wo ich nun lebte, fuhren wir mit dem Auto, und ich hatte einen richtigen Hund. In Deutschland konnte ich nicht mit den Kindern aus meiner Straße spielen, weil ich Jüdin bin. Jetzt spielte ich mit neuen Freunden, den schottischen Kindern. Schon bald nannte ich die Frau „Mama“ und den Mann „Papa. Aber die richtigen Eltern waren die Mutti und der Vati. Von Mutti und Vati bekam ich einen Brief. „Wir vermissen dich sehr. Sei immer lieb und brav und vergiss nicht, uns zu schreiben. Heute morgen haben wir Pilze gesammelt und sehr an Dich gedacht. Wir hoffen, dass wir bald bei dir sind.“ Ich wünschte es mir auch so sehr. Diesen Brief von Mutti und Vati tat ich in meine Tasche. Ich hütete ihn sehr und las ihn immer wieder, auch als der Krieg ausbrach. |